Der Läufer

Okt. 16, 2019 · 6 Min Lesezeit

Ein Junge läuft durch den Regen eines Morgens um seinen Freund zu erreichen. Wenn das nur so einfach wäre.

Das Bild, “Jogger”, von blachswan, ist lizensiert unter der CC BY 2.0

Die englische Originalfassung dieser Kurzgeschichte gewann den ersten Platz der 2019 Deadlines for Writers Short Story Writing Challenge. Diese kann über die englische Fassung dieser Seite aufgerufen werden, zusammen mit einer wundervollen Audioversion von Jeremy Long.

Die kühle Luft schnitt wie eine Klinge in meine Lungen. Meine Seiten schrien nach einer Pause, nach einem Halt. Aber ich weigerte mich. Ich musste weiter. Ich musste Mike einholen. Das war alles, was zählte. Nichts anderes.

Nicht das schnelle Trommeln meines Pulses in meinen Ohren.

Nicht das brennende Stechen von Schweiß und Regen in meinen Augen.

Nicht das durchnässte Hemd, das an meinem Körper klebte.

Nicht das qualvolle Gefühl in meinen Knien, Knöcheln und Füßen.

All das war unwichtig.

Also rannte ich weiter. Wie Mike.

Ich hatte mich immer gefragt, wie er das alles machte.

Er war schon immer stark, fit und gutaussehend gewesen.

Als wir uns das erste Mal begegneten, hatten die Erwachsenen es vorgezogen, mich „Außenseiter“ zu nennen, um Wörter wie „merkwürdig“ oder „Freak“ zu vermeiden. Die Bullies in meiner Klasse hatte keine Hemmungen mich irgendwie zu nennen. Sie hatten sogar ihre eigenen Begriffe erfunden.

Die Schulbibliothek war mein Zufluchtsort, mein Versteck vor Menschen wie ihnen. Und in ihren Büchern fand ich Freunde, die mich auf ihre Abenteuer mitnahmen. Dort tat mir niemand weh.

Eines Tages war da einfach dieser Typ hereingeschlendert, hatte sich auf die Couch geworfen, mich angelächelt und gesagt: „Hey, ich bin Mike. Willst du mein Freund sein?“

„Ich bin nicht wirklich ‘Freundschaftmaterial’!“

„Warum sagst du das?“

Ich sah mich um. Kein Bully in Sicht, der auf einen Streich wartete. Nur Mike. Er saß einfach da – mit einem Lächeln, das Kriege beenden könnte.

„Ich… hör zu, die anderen mögen mich nicht besonders und ich…“

„Was liest du gerade?“

Die Frage hatte mich überrumpelt. Bullies interessierten sich nicht für das, was ich lese.

„‚Die Glasglocke‘. Von Sylvia Plath.“

„Cool. Worum geht’s?“

Und ich erzählte es ihm. So wie ich ihm von jedem anderen Buch erzählte, das ich danach las. Er sagte, er sei kein großer Leser, aber er höre mir gerne zu, wenn ich über meine Lieblingsbücher sprach. Ich glaubte immer, das sei eine Lüge, und dass ich ihn bestimmt zu Tode langweilte – aber es war eine warme Lüge. Eine Lüge, die sich so gut anfühlte wie sein Arm um meine Schultern und dieses Lächeln, das wärmer war als die Sonne.

Nach unseren Treffen in der Bibliothek joggten wir nach Hause. Also – er joggte, und ich trabte hinterher, versuchte Schritt zu halten.

Laufen war sein Ding. Er war im Laufteam der Schule, das machte ihn zu einem der „Beliebten“.

Für ihn war so ein Nachhausejoggen nichts.

Er neckte mich ein wenig damit. Aber das war in Ordnung. Wenn Mike mich neckte, fühlte es sich nie wie Mobbing an, nie wie das, was ich von den anderen ertragen musste.

„Hey, beeil dich!“ rief er dann, grinste und sprintete los. Aber an jeder Ecke, an jeder Kreuzung wartete er auf mich.

Und obwohl mein Körper eher für Sofas, Bücher und trübe Gedanken gemacht war, machte es mir nichts aus, ihm hinterherzulaufen. Klar, Laufen fühlte sich unbeholfen an. Aber er schien glücklich zu sein – und ich mochte es, bei ihm zu sein.

Nach dem Lauf ging ich oft noch mit zu ihm, trank etwas, wurde ein bisschen neidisch und unsicher, wenn er sein Hemd wechselte und ich seinen perfekt geformten Körper sah.

„Du wirst besser beim Laufen!“ sagte er jedes Mal.

„Lüg nicht, das sagst du nur, damit ich dir nachlaufe!“ entgegnete ich, ohne zu wissen, ob das nun die Wahrheit war oder nicht.

„Mach dir keine Sorgen, ich warte trotzdem auf dich“, hatte er gesagt.

Er hatte den ganzen Sommer über auf mich gewartet. Und den Herbst.

Er hatte im Winter auf mich gewartet.

Und im nächsten Sommer.

Jetzt wartete er nicht mehr. Nicht an dieser Kreuzung. Auch nicht an dieser. Oder an dieser Ecke.

Das war in Ordnung. Ich wusste, dass er es nicht tun würde. Ich wusste, wo er war.

Der kalte Morgenwind ließ mich leicht frösteln. Es war noch dunkel. Ich wollte schneller werden. Also stellte ich mir ein Rudel Wölfe hinter mir vor. Das half nicht.

Dann stellte ich mir Mike vor. Ich sah ihn wieder an der Klippe stehen. So wie damals stürmte ich los, rannte so schnell ich konnte. Nicht schnell genug, um ihn rechtzeitig zu erreichen. So wie damals.

Endlich erreichte ich das Tor und folgte dem Weg. Mein Körper schien aufzuatmen, als ich in einen Trab verfiel und schließlich vor dem Stein stehen blieb, mit einem Namen und zwei Datumsangaben.

„Hi Mike.“

Er antwortete nicht, legte auch nicht den Arm um meine Schulter und ich fröstelte.

„Ich gehe am Montag wieder zur Schule. Sie sagen, ich müsste jetzt wieder klarkommen. Fühlt sich nicht so an.“

Der Stein antwortete nicht. Ich atmete tief ein. Die Luft roch modrig und nach regengetränkter Erde.

Sie roch nicht nach Mike.

„Ich lese gerade ‚Der Fänger im Roggen‘. Von J.D. Salinger. Es geht… es geht um einen Jungen… einen Jungen, der Kinder davor bewahren will… in einen Abgrund zu fallen…“

Tränen, Regen und Schweiß gaben mir einen salzigen Geschmack im Mund. Ich wischte mir mit bloßen Händen das Gesicht ab.

„Ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut, dass ich nicht neben dir stand. Ich war zu weit hinter dir und konnte dich nicht klar sehen. Ich konnte dir nicht helfen. Aber ich ändere mich, Mike. Ich verspreche dir, dass ich mich ändern werde. Ich werde so ein Freund wie du. Jemand, der andere sieht.“

In meinem Kopf wünschte ich mir ein Zeichen. Ich weiß nicht – dass der Stein zu leuchten beginnt, dass Krähen krächzen, irgendwas. Aber da war nur der Stein, der Regen und ich – im dunklen, düsteren Friedhof bei Morgengrauen.

„Also dann, Mike.“

Die Leute hatten Mike immer gesagt, wie gut er im Laufen war.

Aber niemand hatte ihn gefragt, wovor er davonlief.

Ich hatte ihn nicht gefragt.

All die Jahre hatte ich gedacht, ich sei wenigstens klug.

Was für ein Idiot ich war.

Ich hatte über all das gelesen, aber ich hatte nichts verstanden.

Nicht wirklich.

Nicht, als ich direkt in sein Gesicht geblickt hatte. Damals, als wir uns das erste Mal begegneten.

„Cool. Worum geht’s?“ hattest du gefragt und das Buch “Die Glasglocke” gegriffen.

„Also, es geht um eine Frau. Sie ist sehr erfolgreich und hübsch und alles, und für andere sieht es so aus, als würde es ihr richtig gut gehen. Aber sie leidet an Depressionen, und das bringt sie in schlimme Situationen. Am Ende versucht sie, sich das Leben zu nehmen.“

„Oh“, hattest du gesagt, und dein Lächeln war verschwunden.

„Ich weiß, echt erbärmlich von mir, dass ich sowas lese.“

„Ich finde nicht, dass du erbärmlich bist. Ich finde, du bist klug!“ Und dein Lächeln war wieder da.

„Wie versucht sie, sich umzubringen?“

„Indem sie zu weit ins Meer hinausschwimmt… oder mit Schlaftabletten…“

„Ich verstehe“, hattest du gesagt.

Ich war nicht klug, Mike.

Ich habe es nicht gesehen.

Du hast mich gesehen – aber ich dich nicht.

Ich war kein Freund, als du einen gebraucht hattest.

Aber ich werde dich einholen.

Du wirst schon sehen.